Smaragdelfen

 

   Prolog

 

 

   Fürst Tibor stand am Fenster im Kartenraum und starrte seit geraumer Zeit regungslos auf den Burghof hinab. Dort unten übten sich einige junge Soldaten im Umgang mit ihren Waffen. Ungeduldig wartete er auf seine Männer. Der Sonnenstand zeigte eine Stunde nach Mittag. Die Besprechung sollte gleich beginnen. Vor acht Mondläufen hatte er Kundschafter ausgesandt um das fruchtbarere und sehr viel reichere Nitanya auszuspionieren. Gestern Abend hatte der wachhabende Soldat vom Südturm ihre Ankunft gemeldet. Kurz vor Einbruch der Nacht.

 

   Tibor wurde immer ungeduldiger während er wartete. Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen. Doch er musste nicht lange warten. Nur wenige Augenblicke. Auf dem Flur wurden Stimmen laut. Agadir und Aderhel betraten als erste den großen Raum, der sich über den Zimmerfluchten der Fürstenfamilie befand. Rund herum standen hohe Regale. Vollgestopft mit Büchern, Schriftrollen und Landkarten. 

   Kurz darauf kam Titus, der Burgvogt und engster Freund Fürst Tibors. Nur wenige Augenblicke danach die restlichen Berater und der Hauptmann der Kundschafter. Alle setzten sich an den großen runden Tisch, der den Raum beherrschte. Auf dessen Mitte lag die Karte von Nitanya ausgebreitet.

   Auf ein Zeichen seines Fürsten hin erhob sich der Hauptmann und begann zu berichten.

   „Wie alle wissen, sind wir vor sechs Monden aufgebrochen um Nitanya zu erkunden. Um nicht aufzufallen hatten wir uns als Händler getarnt und waren in kleinen Gruppen von jeweils fünf Mann unterwegs.“ Bei seinen Ausführungen zog er mit dem Finger in verschiedene Richtungen über die Karte vor ihnen. „Wir haben viele brauchbare Informationen erhalten. Mir wurde mitgeteilt, dass das Land schon längere Zeit in einen Krieg mit dem Baron von Bulgados verstrickt sei.“

   „Ein Krieg?“ unterbrach ihn Tibor. „Wisst Ihr näheres darüber?“ Erwartungsvoll richteten sich alle Augen auf ihn. Er nickte.

   „Aber ja“, antwortete er. Dabei tippte er mit dem Finger auf die Provinz Karados. „Dorthin sind wir geritten. Wir haben die beiden Heere gesehen. Als wir zurück ritten haben sie sich noch belauert. Doch der Kampf stand unmittelbar bevor. Das Heer von Nitanya war dem von Bulgados zahlenmäßig unterlegen, doch mit sehr viel besseren Waffen ausgestattet. Ich bin mir sicher, dass die Krieger von Nitanya den Kampf gewonnen haben.“

Einige Zeit herrschte Schweigen. Jeder dachte über das Gehörte nach. Sollten sie wirklich angreifen? War die Zeit reif? Konnten sie diesmal Siegreich sein? Fürst Tibor runzelte die Stirn. Er hatte den Blick gesenkt und starrte vor sich auf die Karte.

   „Seit Ihr Euch ganz sicher?“ fragte er schließlich und sah den Hauptmann an.

   „Ja, mein Fürst“, erwiderte der Offizier und nickte zur Bestätigung.

   „Nun gut“, richtete Tibor jetzt das Wort an die Anwesenden, „wie schnell können wir unsere Soldaten zusammenziehen?“

   „Wenn die Boten sofort aufbrechen, in einem Mondlauf“, meldete sich Aderhel zu Wort.

 

   Aderhel war ein Krieger der Drachengarde. Die Elitekrieger von Kyntera. Er hatte den Rang eines Leutnants und war außerdem Stellvertreter des Generals der Drachengarde.

   „Das wäre dann am Morgen des dritten Tages in der ersten Woche im Mond der Ettorak“, fuhr er fort. „Es wird einen weiteren Mondlauf in Anspruch nehmen, alle Männer und die Ausrüstung durch die Schlucht zu schaffen. In der Ebene von Norad könnten wir das Heer versammeln und von dort den Angriff starten.“

   Aderhel deutete mit dem Finger auf die betreffende Stelle. Tibor nickte bedächtig mit dem Kopf.

   „Dann leitet alles in die Wege und schickt die Boten aus“, befahl er schließlich.

   Titus und Aderhel gingen gemeinsam nach unten. Auf dem Hof riefen sie fast zwei dutzend Krieger zu sich und erklärte ihnen ihre Aufgabe. Die Männer begannen auf der Stelle mit den Vorbereitungen.

   Nur eine Stunde später verließen zwanzig schwarz gekleidete und finster aussehende Reiter auf rabenschwarzen Pferden die Burg in alle Himmelsrichtungen. Ihr Befehl: alle kampffähigen Krieger zusammen zu rufen.

 

    

 

Mondblüte

 

   Die Smaragdelfe stand stocksteif da. Stumm und starr vor Schreck bewegte sie nicht einmal die Flügel.

   Wie dumm kann man eigentlich sein, schalt sie im Stillen mit sich selbst. Meine Mutter hat schon recht. Immer bin ich so unachtsam, dachte sie grimmig

   Gesima und Brigid warfen sich einen Blick zu. Dann wandten sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Wesen zu. Es stand drüben am Waldrand und starrte seinerseits zu ihnen herüber.

   „Wer bist du?“ fragte Gesima schließlich, als sie ihre Sprache wiederfand.

   Das Wesen sagte kein Wort. Es stand da und regte sich nicht. Die beiden Freundinnen sahen sich das Wesen ganz genau an. Es war ungefähr halb so groß als sie selbst. Also etwa zweieinhalb Fuß.

   Es hatte eine blasse Haut und – Brigid glaubte ihren Augen nicht zu trauen – Flügel auf dem Rücken. Große schillernde Flügel, die blass in den Farben des Regenbogens leuchteten. Ansonsten sah es aus wie ein Mensch – wie ein Mädchen um genau zu sein – obwohl dem kleinen Geschöpf grüne Haare auf dem Kopf wuchsen. Weder Gesima noch Brigid hatten jemals bei einem Menschen grüne Haare gesehen. Die Farbe der Augen schloss sich vollkommen dem Erscheinungsbild an. Sie waren ebenso grün und funkelten wie Smaragde.

   Ob das eine Smaragdelfe ist, dachte Brigid. Sie holte tief Luft und öffnete den Mund um danach zu fragen.

   „Wer bist du? Bist du eine Smaragdelfe?“ kam Gesima ihr zuvor. Die Priesterin hatte offensichtlich die gleichen Gedanken. Hoffnungsvoll sah sie das Mädchen an, das nach ihren Maßstäben nicht größer als ein Kind war.

   „Ja, ich bin eine Smaragdelfe“, antwortete das Wesen endlich „Und wer seid Ihr?“

   „Wir sind Priesterinnen des Sonnenordens“, ergriff nun Brigid das Wort. „Ich heiße Brigid und das ist meine Freundin Gesima“, stellte sie sich beide vor.

   „Und was wollt ihr hier?“ fragte die Smaragdelfe.

   „Wir wollen die Elfen um Hilfe bitten“, erwiderte Brigid.

   „Warum?“ wollte das Elfenmädchen wissen.

   „Wir...“, begann Brigid, doch Gesima unterbrach sie mit einer Handbewegung.

   „Die Oberpriesterin unseres Ordens hat uns beiden den Auftrag erteilt, einen Brief an den Herrscher der Smaragdelfen zu überbringen“, ergriff sie stattdessen selbst das Wort. „Ich bitte dich, bringe uns zu ihm“.

   „Warum wollt ihr die Hilfe von uns Smaragdelfen?“ wiederholte die junge Elfe ihre Frage und kam dabei näher.

   Gesima ging nicht darauf ein. „Bring uns zu deinem König“, verlangte sie stattdessen.

   „Nein“, sagte die Elfe und setzte sich demonstrativ ans Lagerfeuer und verschränkte die Arme. „Ich bringe Euch erst zum König und zur Königin, wenn Ihr mir gesagt habt, warum Ihr unsere Hilfe wollt“, fügte sie hinzu und sah die beiden böse an.

   Gesima sah genauso böse zurück und sagte kein Wort mehr.

   Brigid sah ihre Reisegefährtin fassungslos an. Was sollte das denn? Sie brauchten die Hilfe dieser Elfe und Gesima behandelte sie wie ein Geschöpf, das keine Rechte hatte. Wie konnte sie ihre Mission nur derart aufs Spiel setzten?

   „Gesima, was soll das?“ fragte sie ihre Ordensschwester. Doch die gab keine Antwort. „Gesima, hör auf damit“, forderte sie ihre Reisegefährtin eindringlich auf.

   Brigid saß da und versuchte die beiden zur Vernunft zu bringen. Immer wieder redetet sie auf eine der beiden ein und versuchte einzulenken.

   Schließlich wurde es ihr zu dumm und sie schrie Gesima an: „Wir haben keine Zeit für solche Albernheiten, das weißt du genau. Also hör sofort auf damit“.

   Dann wandte sie sich der Elfe zu und fragte nach ihrem Namen.

   „Ich heiße Mondblüte“, antwortete die Elfe. „Erzählt Ihr mir jetzt, warum Ihr hier seid?“ fragte sie dann.

   „Unsere Oberpriesterin hat seit vielen Mondläufen einen schrecklichen Alptraum“, entgegnete Brigid und dann erzählte sie der jungen Elfe alles was sie wusste.

   Mondblüte hörte aufmerksam zu und unterbrach die Priesterin kein einziges Mal. Dabei beobachtete sie die andere ganz verstohlen aus den Augenwinkeln.

   Gesima schmollte immer noch. Demonstrativ wandte sie dem Elfenmädchen den Rücken zu. Mondblüte war das egal.

   Als Brigid mit ihrem Bericht zu Ende war, zeigte sich die Elfe sehr bestürzt.

   „Das ist ja schrecklich!“ rief sie entsetzt. „Das muss sofort das Königpaar erfahren.“ Hastig sprang sie auf. „Der König wird wissen, was zu tun ist, um Euch und allen Völkern von Nitanya zu helfen“, fügte sie etwas ruhiger hinzu.

   „Dann wirst du uns zu ihnen bringen?“ fragte Brigid ganz aufgeregt.

   „Ja, das werde ich“, antwortete Mondblüte mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht.

   „Ich danke Dir, Mondblüte“, meldete sich in diesem Augenblick Gesima zu Wort und wandte sich der Smaragdelfe zu. „Bitte verzeih mir, dass ich so unhöflich zu Dir war“, fügte sie ganz leise und beschämt hinzu.

   „Ach, das ist schon gut. Ich war ja auch nicht gerade nett und freundlich zu Euch“, erwiderte Mondblüte zuckersüß. „Wir sollten lieber gleich aufbrechen. Beeilt Euch. Löscht das Feuer und packt alles zusammen. Unsere Stadt ist noch ein ganzes Stück weit weg. Es dauert ein paar Tage, bis wir da sind“.

   „Wie! Es dauert ein paar Tage!“ jammerte Brigid und sah erst die Elfe, dann Gesima und dann wieder die Elfe fragend an.

   „Ja“, amüsierte Mondblüte sich über die entsetzten Gesichter der beiden Priesterinnen. „Aber habt keine Angst, wir werden auf dem direkten Weg und ohne Schwierigkeiten dort hin gelangen. Seht, dort vorne ist der Weg durch den Wald“.   

   Die Elfe zeigte nach rechts. Gesima und Brigid folgten ihrer Bewegung mit ihrem Blick. Zu ihrem Erstaunen sahen sie tatsächlich einen Weg, der in den Wald hinein führte.

   „Oh, ist das ein magischer Wald?“ fragten beide wie aus einem Mund.

   „Ja natürlich, was dachtet Ihr denn? Wisst ihr denn nicht, das die Smaragdelfen die Gabe besitzen, sich selbst und andere Dinge oder Menschen unsichtbar zu machen?“ fragte Mondblüte aufgeregt. „Wartet ich zeige es Euch“, fügte sie gleich darauf hinzu, machte eine Handbewegung, murmelte ein paar unverständliche Worte vor sich hin und verschwand vor den Augen der beiden Priesterinnen.

   Brigid und Gesima standen mit offenem Mund da. Die Augen weit aufgerissen. Verblüfft beobachteten sie, wie das Elfenmädchen vor ihren Augen verschwand.

   „Mondblüte?“ fragten die Priesterinnen nach ein paar Augenblicken unsicher und holten tief und sehr geräuschvoll Luft.

   „Ich bin hier“, erklang die klare und glockenhelle Stimme der Elfe direkt vor ihnen. Einen Moment später war sie wieder sichtbar und kringelte sich fast vor Lachen. „Ihr solltet Eure Gesichter einmal sehen“, brachte sie unter Gekicher nur mühsam heraus.

   Ihr Lachen klang aber nicht hämisch, sondern eher fröhlich. Die beiden Frauen konnten gar nicht anders und brachen in schallendes Gelächter aus.

   „Oh bitte, Mondblüte, hör auf zu lachen. Ich kann nicht mehr. Ich habe Bauchschmerzen“, keuchte Gesima schließlich und versuchte krampfhaft sich zu beruhigen.

   „Sehen wir wirklich so komisch aus?“ kicherte Brigid mit Tränen in den Augen. „Nun ja! Weißt du, Mondblüte, wir sind noch niemals einer Angehörigen deines Volkes begegnet. Und leider hat die Oberpriesterin es versäumt, uns darauf vorzubereiten, das ihr magische Kräfte besitzt“.

   „Na ja, wenn das so ist, dann sollten wir jetzt besser aufbrechen“, antwortet ihr die Elfe. „Wartet nur bis ihr unsere Stadt seht“, fügte sie geheimnisvoll hinzu und zwinkerte verschmitzt mit den Augen.

   Sie erhoben sich und packten rasch ihre Sachen zusammen. Während Gesima das Feuer löschte, sattelte und zäumte Brigid die beiden Pferde. Mondblüte half ihr den Proviant in den Satteltaschen zu verstauen. Als letztes band sie die Decken hinter dem Sattel fest.

   „Seit ihr fertig?“ fragte Gesima und kam zu ihnen. Brigid warf einen letzten Blick über ihren Lagerplatz, ob sie auch nichts vergessen hatten. Alles eingepackt, stellte sie zufrieden fest.

   „Auf geht’s“, wandte sie sich an Mondblüte. Vertrauensvoll folgten sie dann der Smaragdelfe in den Wald. Die Pferde führten sie an den Zügeln hinter sich her.